Zwangsarbeit in Schwenningen

Gruppenfoto

Im Jahr 1944 musste der 17-jährige Ukrainer Wolodomyr Petrovych Shcherbina in Schwenningen Zwangsarbeit leisten. Jetzt sieht sich der inzwischen 96-Jährige wieder einem Krieg ausgesetzt. Das Gymnasium am Deutenberg hat nun eine Patenschaft für ihn übernommen. So soll Wolodomyr Petrovych Shcherbina mit Geld- und Sachspenden geholfen werden. Gleichzeitig wollen die Initiatoren dieses bislang dunkle Kapitel in der Schwenninger Geschichte erforschen. Geschichtslehrerin Larissa Zürn ist für unsere Schule Teil der Initative und möchte mit Schülerinnen und Schülern Projekte rund im dieses Thema ins Leben rufen.

 

Daniela Schneider von der Lokalzeitung DIE NECKARQUELLE berichtet am 27. Januar 2023 ausführlich über den Fall – herzlichen Dank für die Erlaubnis zum Abdruck auf dieser Seite:

Im Jahr 1944 musste ein 17-jähriger Ukrainer in Schwenningen Zwangsarbeit leisten. Er war einer von vielen – und jetzt ist er noch einer der wenigen, die als Zeitzeugen berichten können. Dem Historiker Florian Kemmelmeier ist der Kontakt zu ihm zu verdanken.

Als Mitarbeiter der Berliner Dokumentationsstätte Topographie des Terrors befasst sich Florian Kemmelmeier von Berufs wegen mit der NS-Zeit. Anfang Dezember bekam er ein Faltblatt des Hilfsnetzwerks für NS-Verfolgte in der Ukraine in die Hände – und stutzte. Abgebildet waren da Überlebende der Verfolgung und unter dem Foto eines Mannes las er: „Wolodomyr S. (*1926) wurde zur Zwangsarbeit nach Schwenningen verschleppt. und musste dort für die Würthner Wecker arbeiten. Heute lebt er im Gebiet Mikollajiw.“

Mit dem Faltblatt fing alles an

Beim Stichwort Schwenningen, sagt Florian Kemmelmeier, „ist mir fast die Kinnlade runtergeklappt.“ Der Historiker hat zu diesem Ort einen ganz persönlichen Bezug: Es ist seine Heimatstadt. Natürlich wusste er schon als Schüler, der sich für Geschichte interessierte, dass es auch hier eine NS-Vergangenheit gab, dass hier Menschen geknechtet und verfolgt wurden. Auch dass es Zwangsarbeiterlager gab, war ihm ein Begriff. Wo aber genau die sich befanden, wie viele Menschen hierher verschleppt und zum Arbeitseinsatz gezwungen wurden, wer diese Menschen eigentlich waren, all dies hatte er selbst eigentlich nie richtig hinterfragt, fiel ihm auf, als er das kleine Bild von Herrn Shcherbina aus der Ukraine betrachtete. Für seine Arbeit für das Gedenkstättenreferat hatte er intensiv zu NS-Zwangsarbeit im Bereich der Bundeshauptstadt recherchiert, er wusste, dass etwa 13 Millionen zivile Gefangene und Kriegsgefangene verzeichnet wurden, aber „in Schwenningen könnte ich kein einziges Zwangsarbeiterlager konkret benennen,“ wurde ihm da auf einmal bewusst.

Der Gedanke daran ließ ihn so schnell nicht mehr los. War denn da gar nichts bekannt?, fragte er sich, und erinnerte sich dann doch noch: Im Regal stand das Bändchen „'Antifaschist, verzage nicht. . .!' Widerstand und Verfolgung in Villingen und Schwenningen 1933-1945“ von Ekkehard Hausen und Hartmut Danneck und drin entdeckte er beim Durchblättern, dass er selbst wohl als Abiturient Stellen zum Thema Zwangsarbeit angestrichen und das Ganze dann doch nicht mehr weiter verfolgt hatte, genauso wenig wie die Info, dass es für eine Schwenninger Familie Schlenker nach dem Krieg ein Zeugnis von drei russischen Zwangsarbeiterinnen gab.

Langsam dämmert es ihm: Dass es in der südukrainischen Stadt am Schwarzen Meer, die die Russen Nikolajew und die Ukrainer Mikollajiw nennen, einen Zeitzeugen gibt, ist ein schier unglaublicher Zufall. Sein Entschluss reifte: Er wollte dem Mann nicht nur über das Hilfswerk Unterstützung zukommen lassen, sondern auch versuchen, mit ihm Kontakt aufzunehmen.

Und genau das machte er dann kurzerhand. Über das Hilfsnetzwerk erfuhr er: „Herr S.“ heißt mit vollem Namen Wolodomyr Petrovych Shcherbina. Er war bei der Firma Georg Würthner in Schwenningen als Bohrer tätig und er lebte hier in Barackenlagern. Seine Lebenssituation heute ist nicht leicht in der prekären Versorgungslage. Mikollajiw erlebte seit Kriegsbeginn massive Angriffe. Seine Frau und sein Schwiegersohn sind verstorben, seine Tochter kümmert sich um ihn.

Ob es denn auch möglich sei, direkt mit dem Mann zu sprechen, fragte Florian Kemmelmeier an, der hoffte, auf Russisch mit ihm kommunizieren zu können. Er selbst kann sich in dieser Sprache verständigen und seine Partnerin ist Russin, so dass das Sprachproblem lösbar schien. „Ihr könnt versuchen, mit seiner Tochter zu telefonieren und ihm gezielt Fragen zu stellen“, lautete die Antwort einer Mitarbeiterin des Netzwerks aus der Ukraine.

Beim ersten Anruf klappt es

Am 30. Dezember war's dann soweit: Bei Herrn Shcherbina schellte das Telefon, er und seine Tochter nahmen ab, man stellte sich vor und dann erzählte der heute 96-Jährige: Es war der 9. März 1944, als er und drei weitere junge Männer in ihrem deutsch besetzten Heimatdorf Shirokaja Balka bei Mikollajiw durch Gendarmen festgenommen wurden. Man brachte sie zu einem Sammelpunkt, von wo aus der Transport dann weiter über Odessa, die Krim, nach Rumänin und von dort auf der Donau bis nach Ulm ging. Von dort sei er mit einer Gruppe von 20 Leuten mit der Bahn nach Schwenningen gebracht worden.

Hier sei er dann bei der Firma Georg Würthner in der Rottweiler Straße 27 eingesetzt worden. Erst, so erinnerte er sich weiter, kam er in das Lager „Auf der Höh“ – wohl ein Frauenlager – , später dann in ein anderes. Insgesamt sei er „recht gut behandelt“ worden, die Nazis als solche habe man erkennen können. Schwenningen erlebte er als „sauber“ – und zugleich sei die mangelnde Hygiene mangels jeglicher Waschmöglichkeiten für die Zwangsarbeiter das schlimmste Problem gewesen.

Besonders blieb ihm das Erlebnis der Befreiung durch die Franzosen in Erinnerung. „Darüber hat er viel gesprochen“, sagt Florian Kemmelmeier. Der junge Ukrainer wollte damals, im Frühjahr 1945, nur eines: so schnell wie möglich wieder nach Hause. Bis zum September jenes Jahres musste er sich aber damit noch gedulden.

Aus einem Lager in das nächste

Von Rottweil aus ging es dann schließlich wieder in die Heimat – und dort geradewegs in ein sogenanntes Filtrationslager, in dem er wieder schuften musste, dieses Mal im Bergbau im Donbas. In der damaligen Sowjetunion sollten diese Lager in der Nachkriegszeit der „Repatriierung“ von Sowjetbürgern und der Ausforschung von „Staatsfeinden“ dienen – wer in Deutschland war, galt als potenzieller Kollaborateur. Wolodomyr Shcherbina hielt es nicht aus, wollte nur noch heim, wurde aufgegriffen und zu fünf Jahren Haft verurteilt. Nach anderthalb Jahren wurde er aus dieser entlassen und konnte endlich wieder nach Hause zurückkehren, sicher gezeichnet von all dem Erlittenen und das in derart jungen Jahren, in denen er auch noch seinen Vater verloren hatte, der bereits 1941 im Krieg gestorben war.

Historiker Kemmelmeier war tief beeindruckt von diesem persönlichen Kontakt und nun erst recht fest entschlossen, dem Thema Zwangsarbeit in Schwenningen näher auf den Grund zu gehen. Dafür hatte er bereits Kontakt mit Dr. Annemarie Conradt-Mach aufgenommen. Bei der Vorsitzenden des Schwenninger Heimatvereins rannte er offene Türen ein. Sie selbst, Sozial- und Wirtschaftshistorikerin, hat schon vor Jahren dazu gearbeitet und veröffentlicht und konnte sich mit ihm austauschen: Sie wusste von etwa 2000 Fremd- beziehungsweise Zwangsarbeitern in Schwenningen, zu denen neben Personen aus der Sowjetunion auch noch etliche aus anderen Nationen gehörten. Die meisten von ihnen wurden demnach als Arbeitskräfte in der Rüstungsindustrie eingesetzt, zu der hiesige Betriebe vielfach umfunktioniert worden waren. Insgesamt seien zwölf Arbeiterlager nachweisbar.

Mittlerweile zeigte sich durch weitere Nachforschungen: Im frei zugänglichen Bestand des Arolsen Archives, dem nordhessischen Zentrum für Dokumentation, Information und Forschung über die nationalsozialistische Verfolgung, gab es Hinweise, Namen und weitere Informationen zu ehemaligen Schwenninger Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern, darunter auch zu der 20-köpfigen Gruppe, mit der Wolodomyr Shcherbina nach Nazi-Deutschland verfrachtet worden war und Patientenlisten mit 590 Namen aus dem Schwenninger Krankenhaus, eine Friedhofsliste und eine Auflistung polnischer Patientinnen und Patienten aus einer Schwenninger Arztpraxis. Die Archive insgesamt werden mehr und mehr geöffnet und „es besteht die Möglichkeit, den vielen Opfern in unserer Region einen Namen zu geben und an ihre schrecklichen Schicksale zu erinnern“, fasst Annemarie Conradt-Mach zusammen. Für sie und Florian Kemmelmeier stand fest: Es müssen mehr Leute davon erfahren und künftig mitmachen, wenn es darum geht, mehr zu diesem Thema herauszufinden und diese Informationen zugänglich zu machen.

Beide trommelten kurzerhand einige Mitstreiterinnen und Mitstreiter zusammen, auch, um Herrn Shcherbina einen Brief zu schreiben. Darin heißt es unter anderem: „Wir – Bürgerinnen und Bürger, die durch ihre Tätigkeit, ihre Herkunft oder ihren Wohnort eng mit Schwenningen verbunden sind – freuen uns, Ihnen heute schreiben zu können.“

Den Brief, der mittlerweile in die Ukraine abgeschickt wurde, unterzeichneten neben der Heimatvereinsvorsitzenden und ihrem Stellvertreter Hans Martin Weber noch weitere Akteure. Sie alle versichern dem ehemaligen Zwangsarbeiter, dass sie „mit großem Interesse und zugleich Bestürzung“ von seinem Schicksal erfahren haben, dass es sie bedrücke, est durch den Angriffskrieg in der Ukraine ,mit ihm in Kontakt zu kommen und sie sich mit Sorge fragen, wie es ihm ergehe und wie er in seinem hohen Alter zurechtkomme.

Sie unterstützen ihn über das Hilfswerk auch mit Spenden und regen an, dass es ihnen auch andere gleichtun. Es wäre aus ihrer Sicht ein starkes Signal, wenn unter dem Verwendungszweck „Schwenningen“ möglichst viele Spenden bei dem Netzwerk eingingen (Empfänger: Kontakte-Kontakty e.V, Berliner Volksbank, IBAN DE 59 1009 0000 2888 9620 02, oder direkt über das Hilfsnetzwerk). Ebenfalls willkommen sind mögliche weitere Zeitzeugnisse – der Heimatverein Schwenningen wäre hier die richtige Adresse, erreichbar unter anderem über info@schwenninger-heimatverein.de.

Alle, die bei der Unterzeichnung des Briefs dabei waren, können sich gut vorstellen, sich an der Bearbeitung des Themas weiter zu beteiligen. „Man wird weiter forschen müssen“, sagt Florian Kemmelmeier, „aber ich kann das nicht alles selber machen.“ Möglich wären Schulprojekte zum Thema oder auch das Aufstellen von Hinweistafeln an Stellen, an denen es die Lager gab.

Galerieleiter Stephan Rößler, der auch für den Schwenninger Museumsbereich verantwortlich zeichnet, betont, dass „zivile Zwangsarbeit eng mit der Uhrenindustrie Schwenningens verbunden“ sei. „Dieses Thema wird im künftigen Museumsquartier eine ganz zentrale Rolle spielen“, gibt er jetzt schon einen weiteren Ausblick. Bis dahin bleibt – sowohl steht fest – noch viel zu tun und die kleine Hoffnung, dass Zeitzeugen wie Wolodomyr Shcherbina möglichst gute Gesundheit beschert bleibt – und baldiger Frieden in ihrem Land einkehrt, wie es in dem Brief aus Schwenningen an ihn abschließend heißt. 

 

Das Foto zeigt (von links): Galerieleiter Stefan Rößler für die städtischen Museen, Lisa Hahn für das Stadtarchiv, Dr. Friedrich Engelke von Pro Stolpersteine VS, Dr. Johannes Kohler, Dr. Dieter Brandes, Lehrerin Larissa Zürn vom Gymnasium am Deutenberg, Dr. Heinz Lörcher (Pro Stolpersteine), Hans Martin Weber und Dr. Annemarie Conradt-Mach für den Schwenninger Heimatverein, Florian Kemmelmeier und Heimatforscher Siegfried Heinzmann. 

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