Ein bedeutender Schritt auf dem deutsch-französischen Lebensweg

Strahlend hält Mathilde Stöber ihre Auszeichnungen, die sie bei der Zeugnisverleihung am Gymnasium am Deutenberg erhalten hat, in der Hand. Sie hat das beste Französisch-Abitur der Schule geschrieben, einen Spanisch- und Geschichtspreis, sowie einen deutsch-französischen Preis erhalten. Zudem hat sie das Abibac – ebenfalls mit dem besten Ergebnis der Schule – erworben. Dabei handelt es sich um einen deutsch-französischen Doppelabschluss, der zum Studium in beiden Ländern berechtigt.

„Ich war schon immer deutsch-französisch“, erzählt die 18-Jährige. Die Verbundenheit mit den beiden Nationen zieht sich wie ein roter Faden durch ihr Leben. Nachdem ihre französische Mutter für ein Praktikum nach Deutschland kam, lernte diese dort Stöbers Vater, einen Deutsch-Franzosen, kennen. Sie und ihre Schwester Marie wachsen bilingual auf: Ihre Mutter redet Französisch mit ihnen, der Vater Deutsch. Es werden französische Gerichte gekocht und nationale Feiertage gefeiert. Mit der Möglichkeit, das Abibac am Gymnasium am Deutenberg zu erwerben, war die perfekte Lösung für die beiden Schwestern gefunden.
Und doch hatte Stöber immer wieder Schwierigkeiten, eine eigene Identität zu finden. „Es war nicht immer leicht. Ich hatte oft das Gefühl, nie hundertprozentig deutsch oder französisch zu sein“, blickt die Abiturientin zurück. Heute hat sie ein Gleichgewicht gefunden und ist ihren Eltern für die bilinguale Erziehung und die dadurch offen stehenden Türen dankbar.

Dass sie nach dem Abitur nach Frankreich will, steht für sie schon lange fest. Im September beginnt ihr Studium an einer von Frankreichs renommiertesten Universitäten. Das „Institut d'études politiques de Lille“ ist Teil des sogenannten „Sciences Po“-Netzwerks mit Eliteuniversitäten in mehreren französischen Städten.
„International and European Governance“ heißt der Studiengang. „Das ist eine Mischung aus Politikwissenschaften, Jura, Wirtschaft, Landeskunde, Philosophie, Geschichte und Sozialwissenschaften“, erklärt die langjährige Balletttänzerin. Das Studium sei also sehr allgemeinbildend. „Ein reines Geschichte- oder Jurastudium wäre mir zu trocken“, begründet sie ihre Wahl. Der Studiengang bietet ihr zudem die Möglichkeit, in Deutschland und Frankreich zu studieren. Stöber wechselt während ihres Studiums zwischen den Standorten Lille und Münster. Los geht es in der nordfranzösischen Stadt, offiziell ist sie jedoch in Deutschland immatrikuliert. Nach fünf Jahren mündet das Studium in einem Masterabschluss, der sowohl in Deutschland als auch in Frankreich anerkannt wird.

Um für den hochkarätigen Studiengang überhaupt angenommen zu werden, musste Stöber ein internes Auswahlverfahren mit einer ausführlichen Bewerbungsmappe und strengen Bewerbungsgesprächen durchlaufen. Die Vorbereitung für das Studium erfordert die Lektüre von Büchern über Wirtschaft und Politik sowie literarischen Klassikern. Außerdem ist es wichtig, über aktuelle politische Themen informiert zu sein. „Ich glaube es wird sehr zeit- und lernaufwendig“, vermutet sie. Da es jedoch ziemlich genau das sei, was sie machen wolle, freue sie sich daher aufs Lernen.

Bedenken hat die Halbfranzösin nicht, sie mache sich eher Sorgen darum, etwas beim Packen zu vergessen. „Vielleicht bin ich da auch ein bisschen zu naiv“, lacht sie. Eine Wohnung in Lille konnte sie durch eine Facebook-Gruppe der Studenten finden: „Wir helfen uns da alle gegenseitig“. Ihre zukünftige Mitbewohnerin hat sie ebenfalls schon kennengelernt.

Auch im Studiengang ist die Atmosphäre laut Stöber sehr familiär, es sind lediglich 40 Studentinnen und Studenten. 20 von ihnen kommen aus Frankreich, die andere Hälfte aus Deutschland. Dadurch ist deren Betreuung viel intensiver, und die Professoren kennen alle beim Namen, was in einem Studium nicht unbedingt üblich ist.

Mathildes Schwester studiert deutsch-französische Sozialwissenschaften an der „Sciences Po“ in Bordeaux sowie in Stuttgart. Alle „Sciences-Po“-Unis haben eigene Sportmannschaften, um einen Teamgeist zu schaffen. Einmal im Jahr messen sich die Campusstandorte in zahlreichen Sportarten und küren am Ende einen Sieger. Dann werden auch die beiden Schwestern sicherlich aufeinandertreffen.

Sogar der französische Präsident Emmanuel Macron studierte an einer „Sciences Po“, jedoch in Paris. Dort, am zentralen Standort des Netzwerks, haben fast alle französischen Präsidenten der letzten Amtszeiten ihr Studium abgeschlossen. „In Frankreich kannst du nicht Präsident oder hoch angesehener Politiker werden, wenn du dieses Politikstudium nicht gemacht hast“, erklärt Stöber. In Deutschland sei das anders, sie verweist auf Angela Merkels frühere Tätigkeit als Physikerin.

Die Zukunftspläne der 18-Jährigen sind ambitioniert. Besonders spannend findet sie das Zusammenspiel von Politik und Journalismus: „Die Medien werden ja auch als vierte Gewalt bezeichnet. Sie können die Demokratie schützen und spielen eine wichtige Rolle für die Bevölkerung“. Ein Praktikum beim deutsch-französischen Fernsehsender Arte oder die Arbeit als Korrespondentin kann sie sich gut vorstellen.
Anfangs stand auch die „Sciences Po“ in Nancy, jedoch ohne binationalen Studiengang, zur Auswahl. Doch Stöber ist sich sicher: „Mir würde Deutschland fehlen“. Momentan wolle sie zwar nach Frankreich, es könne dennoch sein, dass sie später in Deutschland wohne oder zwischen beiden Ländern wechsele. Die deutsch-französische Identität wird somit auch ihren weiteren Werdegang stark prägen.

Dieses Portrait schrieb Philipp Kaltenmark für DIE NECKARQUELLE am 19.08.2020. 

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